Angespannte Lawinensituation in den Alpen
Nach ergiebigen Schneefällen an den Nordalpen besteht eine erhebliche bis große Lawinengefahr, die bereits erste Opfer gefordert hat. Wie ist der derzeitige Schneedeckenaufbau gekennzeichnet und welche dominierenden Lawinen-Gefahrenmuster ergeben sich daraus?
Bei der Beurteilung der Lawinensituation lassen sich je nach Wetterlage und Schneedeckenaufbau typische, immer wiederkehrende Gefahrensituation verifizieren. Anhand von jahrelangen Untersuchungen von Lawinenereignissen wurden zehn typische Gefahrenmuster erarbeitet, die in den täglichen alpinen Lawinenlageberichten Erwähnung finden. Anhand der Wettersituation der letzten Woche sind aktuell zwei Muster dominierend, die heute kurz vorgestellt werden sollen: 1. Schnee nach langer Kälteperiode; 2. Lockerer Schnee und Wind.
Während sich auf der Alpensüdseite vor allem Anfang Dezember in mehreren Schüben richtige Schneemassen abluden, war die Situation in den (bayerischen) Nordalpen bisher eher durch unterdurchschnittliche Schneemengen geprägt. Die mittleren Lagen der bayerischen Alpen um 1000 m wiesen bis zum Ende der ersten Januardekade meist nur dürftige Schneehöhen um 5 bis 15 cm auf. Auch in den Lagen darüber ließen sich nur etwa 20 bis 40 cm Schneeauflage finden. Diese Altschneedecke war über das vergangene Wochenende und zu Beginn dieser Woche einer längeren Kälteperiode ausgesetzt war, die in den Nächten teils mit deutlich zweistelligen Tiefstwerten einherging.
Durch die Kälteperiode konnten sich die oberflächennahen Schichten der Altschneedecke aufbauend umwandeln und es setzte sich zusätzlich Oberflächenreif ab. Die Schneedeckenoberfläche bestand somit aus kantigen, lockeren Schneekristallen, deren Festigkeit untereinander im Allgemeinen relativ gering ist. Am Dienstag brachte dann eine erste Front von Nordwesten her etwas Schnee in weite Teile Deutschlands und lud diesen schließlich auch im Nordstau der Alpen ab. Insgesamt kamen in den Hochlagen etwa 15 bis 20 Zentimeter Neuschnee hinzu. Die Kombination aus vorheriger Kälteperiode und Neuschnee bildet somit die Grundlage für das unfallträchtige Gefahrenmuster „Schnee nach langer Kälteperiode“. Zusätzlich kam ein stürmischer Nordwestwind ins Spiel, der vor allem in Windschattenhängen größere Mengen frischen Triebschnee auf dem Altschnee ablagerte. (Hier greift dann zusätzlich auch das zweite Gefahrenmuster „Lockerer Schnee und Wind“, dass in den nachfolgenden Abschnitten noch eingehender betrachtet wird.) Die Verbindung zwischen der oberflächennahen Schwachschicht des Altschnees und den Neuschnee- bzw. Triebschneepaketen ist dabei untereinander sehr schlecht. Somit ist die Schneedecke durch geringe Zusatzbelastung störanfällig. Es reicht zum Beispiel schon ein einzelner Skifahrer oder Tourengeher, um die Schwachschicht zu stören und eine Schneebrettlawine auszulösen. Der Lawinenwarndienst Bayern stufte die Lawinensituation am Mittwoch bereits als erheblich ein, was bei 5 Stufen der Stufe 3 entspricht.
Vergangenen Mittwoch griff von Westen her eine relativ stationäre Luftmassengrenze auf den Südwesten und den Alpenraum über und sorgte bis zum Freitagvormittag für ergiebige Schneefälle (wir berichteten an dieser Stelle bereits gestern darüber). Zwischen Werdenfelser Land und Allgäu kamen dabei zwischen 40 und 75 cm lockerer, trockener Neuschnee zusammen. Auch abseits der Alpen konnten sich die Neuschneemengen sehen lassen: Saarbrücken (16 cm), Freiburg (18 cm), Konstanz (31 cm). Zwischen westlichem Bodensee und Schwarzwald zeigten die Messungen sogar verbreitet 30 bis 50 cm.
Doch nun zurück an die bayerischen, respektive zentralen Nordalpen. Die Kombination von lockerem, trockenen Neuschnee und zumindest in den Kammlagen zeitweilig böigem Wind führte zu Verfrachtungen und damit zu einer weiteren Zunahme der Lawinengefahr. Der von Wilhelm Paulcke in den 1930ern geprägte Satz: „Der Wind ist der Baumeister der Lawinen.“ gilt daher auch heute noch unverändert fort. Je kälter dabei der verfrachtete Schnee ist, desto empfindlicher reagiert dieser auf Belastung, weil die Sprödigkeit zunimmt. Charakteristisch für das Gefahrenmuster „lockerer Schnee und Wind“ ist, dass die Schwachschicht meist aus lockerem Neuschnee besteht und von größeren Triebschneeansammlungen überlagert wird. Aufgrund dieser Kombination wird derzeit in den Bayerischen Alpen, sowie auch in den benachbarten Regionen der Schweiz und Österreich von einer erheblichen bis großen Lawinengefahr ausgegangen. Dabei können sich an vielen Steilhängen von selbst oder nur durch geringe Zusatzbelastung mittlere bis große Locker- und Schneebrettlawinen entwickeln. Die Lawinensituation bleibt vorerst angespannt, zumal ab dem morgigen Sonntag von Westen her neue Schneefälle an den Alpen aufkommen. Bis Montag ergeben sich dabei Neuschneemengen von 20 bis 30, in Staulagen des Allgäus auch bis 50 Zentimetern. Touren im freien Gelände sollten aktuell vermieden oder nur mit sehr gutem lawinenkundlichem Wissen und entsprechender Ausrüstung vorgenommen werden. In aller Regel ist das Gefahrenmuster „lockerer Schnee und Wind“ jedoch von relativ kurzer Dauer, da sich nach Beendigung des Schnee- und Windereignisses die Schneedecke allmählich zu setzen beginnt.
M.Sc.-Met. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst Vorhersage- und Beratungszentrale Offenbach, den 16.01.2021
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