Gegenstrahlung
Der Strahlungshaushalt bzw. die Strahlungsbilanz ist ein wesentlicher Faktor für die in der Atmosphäre ablaufenden Prozesse. Dabei unterscheidet man in einem ersten groben Schritt einerseits die von der Sonne ausgestrahlte kurzwellige und sehr energiereiche Strahlung und andererseits die von der Erde ausgestrahlte langwellige (Wärme-)Strahlung. Bei genauerem Hinsehen werden beide Strahlungsarten auf ihrem Weg durch die Atmosphäre in vielfältiger Weise verändert, teils nur bezüglich ihrer Ausbreitungsrichtung, teils nur bezüglich ihres Wellenlängen-Spektrums – und manchmal auch bezüglich beider Eigenschaften.
Im heutigen Thema des Tages werfen wir einen Blick auf die Wärmestrahlung der Erde. Sie hat einen Energieverlust für den Erdkörper zur Folge, der umso höher ist, je besser die Wärmestrahlung durch die Atmosphäre in den Weltraum gelangen kann. Umgekehrt ist der Energieverlust dann gering, wenn ein großer Teil der irdischen Strahlung, z. B. durch Reflektion, wieder zur Erde zurück gelangt. Diesen Teil der irdischen Wärmestrahlung bezeichnet man als Gegenstrahlung, weil sie dem physikalischen „Drang“ der Erde, Energie abzugeben, entgegensteht.
Sozusagen im „Gegenstrahlungs-Fokus“ stehen aktuell natürlich die Treibhausgase und in der Folge der Klimawandel. Aber auch Wasserdampf und mithin die Wolken sind sehr effektive „Gegenstrahler“. Ein schönes Beispiel dafür zeigte sich am vorvergangenen Wochenende im Rhein-Main-Gebiet.
In der Abbildung 1 ist dazu der Temperaturverlauf am Messfeld des Instituts für Physik der Atmosphäre der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz vom 29.11. bis 4.12.2024 angegeben. Genau genommen sind es sogar mehrere Temperaturverläufe, nämlich die Temperatur in 2 m Höhe (rot), in 20 cm Höhe (grün) und in 5 cm Höhe (blau). Die vierte Kurve (Taupunkt) ist ein Maß für die Feuchtigkeit. Letztendlich kann man sich für unsere Überlegungen eine der drei erstgenannten Kurven aussuchen, die zugrunde liegenden Prozesse sind bei allen Temperaturkurven gleich.
In der Nacht von Freitag auf Samstag (29.11. auf 30.11.) war der Temperaturverlauf (bzw. sind alle drei Temperaturverläufe) weitgehend so, wie man es erwartet. Die Temperatur sank – abgesehen von einem kleinen Peak nach oben zu Beginn der zweiten Nachthälfte) kontinuierlich ab. Gegen 07 Uhr MEZ am Morgen (Pfeil 1) und damit kurz nach Sonnenaufgang sorgte der solare Strahlungsinput dann für einen Temperaturanstieg bis etwa zur Mittagszeit. Am Nachmittag gewann die Ausstrahlung der Erde dann gegenüber der solaren Einstrahlung die Oberhand und die Temperatur sank wieder ab. Diese Temperaturkurve ist typisch für sogenanntes Strahlungswetter, das sich durch wolkenarme oder wolkenlose Gegebenheiten auszeichnet.
In der Nacht zum Sonntag passierte dann aber Ungewöhnliches. Schon gegen 02 Uhr MEZ (Pfeil 2) begann die Temperatur zu steigen. Eine mögliche Option wäre natürlich Warmluftadvektion gewesen, allerdings war der Wind schwach (Hochdruckeinfluss). Stattdessen kann man die Erklärung aus Abbildung 2 herauslesen.
In dieser ist die tiefe Bewölkung dargestellt, wie sie unser Modell ICON–EU für die Nacht vom 30.11. zum 1.12. vorhergesagt hat. Um 21 UTC am 30.11. (22 Uhr MEZ, oben links) war Mainz (roter Kreis) laut Modell noch frei von tiefer Bewölkung. In der frühen zweiten Nachthälfte (00 UTC entsprechend 01 Uhr MEZ), also kurz vor Beginn des Temperaturanstiegs an der Johannes Gutenberg-Universität, verdichtete sich die tiefe Bewölkung (oben rechts). Im weiteren Verlauf der Nacht zog die Bewölkung immer weiter zu (unten, von links nach rechts). Damit verstärkte sich die Gegenstrahlung und der Temperaturanstieg schritt bis in die Morgenstunden voran. Übrigens: Das wird auch der Grund für den kleinen Temperaturpeak in der Nacht zum Samstag gewesen sein.
Mit Tagesbeginn schwang das „Strahlungspendel“ aber zurück. Nunmehr dämpfte die Bewölkung die solare Einstrahlung, entsprechend stieg die Temperatur nur sehr zögerlich an – kein Vergleich zur raschen Temperaturzunahme am Vortag. Dafür hielt der kontinuierliche Temperaturanstieg bis in die Nacht zum Dienstag an. Dies war aber der Warnluftadvektion durch Frontensysteme geschuldet.
In weiten Teilen des Rhein-Main-Gebiets war der 1.12. somit kein freundlicher Tag. Die Betonung liegt auf „in weiten Teilen“. Denn wer sich die Mühe gemacht hat auf den Feldberg im Taunus zu wandern, konnte ein spektakuläres Panorama bewundern (Abbildung 3, mit freundlicher Genehmigung von foto-webcam.eu).
Diplom-Meteorologe Martin Jonas
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 11.12.2024
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