Das Vb-Tief – Teil 2: Zugbahn und Auswirkungen am Beispiel von Tief GISELA
Heute erklären wir anhand von Tief GISELA die typischen Eigenschaften eines Vb-Tiefs und die Ursachen der damit verbundenen markanten Wettererscheinungen.
Im Tagesthema vom 24. Oktober (am Ende des Textes verlinkt) haben wir die Namensherkunft von Vb-Tiefs sowie deren besondere Zugbahn erläutert. Vb-Tiefs bilden sich über Norditalien oder der Adria und ziehen um die Alpen herum nach Polen. Sie lösen über Polen und der Osthälfte Deutschlands mitunter unwetterartige Regenfälle aus. Anhand von Tief GISELA, das Mitte dieses Monats eine Vb-artige Zugbahn nahm, beschreiben wir die typischen Eigenschaften und Wettererscheinungen eines Vb-Tiefs.
Am 12. Oktober stieß in der höheren Troposphäre (ca. 5,5 km Höhe) ein Trog über West- und Mitteleuropa bis in den zentralen Mittelmeerraum vor und tropfte dort zu einem eigenständigen Höhentief ab. An dessen Vorderseite, ein typisches Gebiet für die Entstehung von Tiefs im Bodenniveau, und befeuert durch die Energie des warmen Meerwassers wurde GISELA über der Adria geboren. Da sich das Höhentief in der Nacht zum 13. Oktober nach Osten ausdehnte, zog GISELA zunächst nicht, wie für Vb-Tiefs üblich, nordostwärts nach Österreich und Ungarn, sondern ostwärts Richtung Balkan (gelbe Pfeile in Abb. 1). Dies entspricht zunächst eher einer Vc-Zugbahn. Im Laufe des 13. Oktober bog GISELA allerdings Vb-typisch nach links ab und zog in einem Bogen nach Norden über Rumänien in die westliche Ukraine. In der Nacht zum 14. Oktober erreichte GISELA schließlich Südpolen und „eierte“ dort den ganzen Tag umher. Am 15. Oktober zog sie schließlich Richtung Baltikum und löste sich auf.
Auch wenn das Tief schon am Morgen des 14. Oktober mit knapp unter 995 hPa seinen tiefsten Druck erreichte und sich im Tagesverlauf bereits etwas abschwächte, nahm es erst jetzt richtig Einfluss auf das Wettergeschehen in Deutschland. Vb-Tiefs saugen gewaltige Mengen feuchtwarme Luftmassen vom Mittelmeerraum an und schaufeln diese in einem breiten Bogen nach Norden. In Abb. 1 kann man dies gut an den hohen Werten der pseudopotentiellen Temperatur (gelbe und hellgrüne Farbflächen) erkennen. Diese berechnete Temperatur ist umso höher, je wärmer und/oder feuchter die Luftmasse ist. Wird diese feuchtwarme Luft nun gehoben, bildet sich ein ausgedehntes und intensives Regengebiet. In der klassischen synoptischen Meteorologie lernt man, dass eine Luftmasse in der Region gehoben wird, in die warme Luft transportiert wird. In der Fachsprache nennt man dies Warmluftadvektion (kurz: WLA). Bei Vb-(artigen) Tiefs wie GISELA ist dies typischerweise an ihren Nord- und Westseiten der Fall (rot schattierte Fläche in Abb. 1).
Ein weiterer Hebungsantrieb ist eine sich mit der Höhe verstärkende positive Vorticityadvektion (kurz: PVA). Nähert sich ein Tief, dann nimmt die Wirbelstärke (Vorticity) der sich gegen den Uhrzeigersinn (als positiv definiert) um das Tief bewegten Luft zu. Dies bezeichnet man als PVA (blau schattierte Fläche in Abb. 1). Überlagern sich PVA und WLA, ist die Hebung besonders stark. Im Falle von GISELA fiel daher am Morgen des 14. Oktober über Tschechien und der Oder-Neiße-Region der intensivste Regen. (Übrigens war PVA auch der Grund, weshalb an der Vorderseite des Höhentiefs Luftmasse aufstieg und somit durch das Massedefizit am Boden Tief GISELA entstand.)
In der Lausitz setzte bereits am Abend des 13. Oktober Regen ein, der sich unter Intensivierung in der Nacht und am 14. Oktober langsam westwärts verlagerte und im Harz bis zum Morgen des 15. Oktober andauerte. Vom Nordosten Bayerns über Thüringen bis in die Südhälfte Brandenburgs fielen verbreitet zwischen 25 und 50 Liter pro Quadratmeter (l/qm). In Teilen von Sachsen und am Harz kamen sogar 50 bis 90 l/qm zusammen (Abb. 2). Noch deutlich mehr Regen fiel in Verbindung mit einem Vb-Tief im August 2002 – der Auslöser für ein verheerendes Hochwasser an der Elbe. Damals prasselten innerhalb von nur 24 Stunden im Bayerischen Wald, über Böhmen, Sachsen und Südbrandenburg verbreitet über 100 l/qm vom Himmel. Nördlich des Erzgebirges wurden sogar über 200 l/qm und in Zinnwald-Georgenfeld (Osterzgebirge) sage und schreibe 312 l/qm gemessen – die bisher höchste erfasste 24-stündige Regenmenge in Deutschland.
GISELA sorgte im Osten und Norden Deutschlands zudem für ordentlich Wind. Ihr stand nämlich über dem Nordatlantik ein kräftiges Hoch mit einem Druck von mehr als 1035 hPa bei den Färöer-Inseln gegenüber. Dadurch entstanden an der Nordwestseite des Tiefs große Druckunterschiede, weshalb der Wind merklich auffrischte. Vor allem über Ostdeutschland kam es verbreitet zu steifen bis stürmischen Böen (Beaufort 7 – 8, 50 – 74 km/h, Abb. 2). Über der Ostsee tobte sogar ein ausgewachsener Sturm. An der vorpommerschen Küste traten über Stunden Sturmböen, am Kap Arkona auf Rügen oder auf polnischer Seite in Swinemünde auch schwere Sturmböen auf (Beaufort 9 – 10, 75 – 102 km/h). An der polnischen Ostseeküste gab es vereinzelt sogar orkanartige Böen bis 108 km/h (Beaufort 11). Da der Wind aus Nordost kam, drückte er gewaltige Wassermassen Richtung Küste, was wie am Rand einer Badewanne zu einem Anstieg der Wasserstände führte. Dieser sogenannte „Badewanneneffekt“ brachte eine Sturmflut mit Wasserständen bis 1,40 m über Normal und man konnte an den Stränden von Rügen und Usedom für die Ostsee ungewöhnlich hohe Wellen bestaunen.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass GISELA zwar keine perfekte Vb-Zugbahn einnahm, sie Deutschland und Polen aber die Vb-typischen Wetterkapriolen bescherte. Mit den historischen Vb-Tiefs aus den Jahren 1997 (Oderhochwasser) und 2002 (Augusthochwasser an Elbe und Donau) konnte sie allerdings nicht mithalten.
Dr. rer. nat. Markus Übel (Meteorologe)
Deutscher Wetterdienst Vorhersage- und Beratungszentrale Offenbach, den 30.10.2020