Das „Zugvogeltum“ in Zeiten des Klimawandels
Den Winter in wärmeren Gefilden verbringen? Für Zugvögel keine Frage! Wie sich der Klimawandel dabei ins Spiel bringt, lesen Sie im heutigen Thema des Tages.
Die Sonne macht sich in diesen Tagen ziemlich rar, wie bereits im Thema des Tages vom vergangenen Dienstag geschrieben wurde. Ok, ein paar wenige Regionen konnten einige Sonnenstunden einheimsen, mancherorts kennt man die Sonne aber – überspitzt gesagt – beinahe nur noch aus Erzählungen. Da möchte man sich doch am liebsten Flügel umschnallen und wie ein Zugvogel in den warmen, sonnigen Süden steuern.
Mittlerweile sind bereits die meisten Zugvögel unterwegs in ihr Winterquartier oder schon dort angekommen. Ihr Antrieb zu dieser anstrengenden Reise ist bekanntermaßen die Aussicht auf ein reichhaltiges Nahrungsangebot. Denn mit Würmern, Insekten, Fröschen und was Zugvögeln sonst noch so alles ein lechzendes „Mmmhhh…“ entlockt, sieht es im Winter ziemlich schlecht aus – zumindest was die gemäßigten und arktischen Breiten auf der Nordhalbkugel angeht. Im Frühjahr wendet sich das Blatt dann aber wieder und die Zugvögel machen sich auf die zum Teil mehrere 1000 km lange Reise nach Norden zurück in die Heimat, um dort schließlich zu brüten.
An dieser Routine wird durch den Klimawandel mehr und mehr gerüttelt. Durch ihn haben sich in den letzten Jahrzehnten die Rückflugzeiten der Vögel weltweit geändert. Sie kehren tendenziell früher in ihre Brutgebiete zurück. Beispielsweise wurde auf Helgoland zwischen 1960 und 2007 eine um im Mittel knapp sieben Tage frühere Rückkehr der dort durchziehenden Zugvögel beobachtet. Der Grund hierfür: Durch insgesamt mildere (Spät-) Winter und wärmere Frühjahre legt auch die Natur früher los. Das damit verbundene erhöhte und verfrühte Nahrungsangebot ist natürlich nicht nur auf unsere gemäßigten Breiten beschränkt, sondern nahezu entlang der gesamten Flugrouten der Zugvögel zu finden, was von diesen offensichtlich gerne angenommen wird.
Bei den Wegzugzeiten müsste man nun annehmen, dass durch im Mittel spätere Wintereinbrüche auch die Zugvögel erst später von dannen schreiten. Tatsächlich ist in dieser Beziehung aber kein wirklicher Trend ersichtlich. Zwar zieht mancher Vogel in der Tat später gen Süden, manch anderer macht sich aber sogar schon früher auf die Socken. Letzteres konnte vor allem in der Schweiz sowie auf den Britischen Inseln registriert werden. Ein Erklärungsansatz dieses auf den ersten Blick paradoxen Sachverhalts ist, dass manche Zugvögel wohl aufgrund ihrer verfrühten Rückkehr auch wieder früher aufbrechen, ähnlich der Vegetationsperiode mancher Pflanzen.
Auf Helgoland wurde dagegen beobachtet, dass sich einige Zugvögel mittlerweile über zwei Wochen länger in ihren Brutgebieten aufhalten als noch vor etwa 50 Jahren. Diese längere Verweildauer hat logischerweise zur Folge, dass länger und häufiger gebrütet werden kann, was einerseits zu einem größeren Bruterfolg, andererseits in Zukunft aber auch zu einem größeren Konkurrenzkampf nicht nur unter den Zugvögeln, sondern auch zwischen Zug- und Standvögeln führen kann. Dadurch könnten Vogelarten aus ihren bisherigen Verbreitungsregionen zurückgedrängt werden und sich in neuen Gebieten niederlassen.
Dipl.-Met. Tobias Reinartz
Deutscher Wetterdienst Vorhersage- und Beratungszentrale Offenbach, den 12.11.2020