Grenzwetterlage
Aktuell präsentiert sich der Winter bei uns von seiner ruhigen Seite. Gebietsweise ist es sonnig, gebietsweise ziehen aber auch dichtere Wolken durch. Dazu bläst das zuständige Hoch JULIAN II auch nicht zu sehr die Backen auf, sprich der Wind ist nur sehr zurückhaltend unterwegs.
Für den Norden und weite Teile der Mitte ist das auch die Marschrichtung in den kommenden Tagen. Im Süden jedoch verspricht das Wetter spannend zu werden. Denn Tief COLLEEN zieht von der Biskaya nach Frankreich und steuert von Südwesten her deutlich mildere Luftmassen in den Süden Deutschlands. In der Folge stellt sich dort eine Wetterlage ein, die Meteorologen gerne als „Grenzwetterlage“ bezeichnen. Der Begriff betont die dominante Rolle, die bei einer solchen Wetterlage von der vorhandenen (Luftmassen-) Grenze gespielt wird.
Häufig, aber nicht notwendigerweise, unterscheiden sich die Luftmassen an einer Luftmassengrenze durch ihre Temperatur. Und dies ist auch am Mittwoch über dem Süden der Fall. Im unteren Teil der Abbildung 1 sind entsprechend die Temperaturen in etwa einem Kilometer Höhe angegeben. Während diese im Allgäu bei bis zu +6 °C liegen, sind es in Stuttgart etwa -2 °C, in Nürnberg sogar -6 °C (so sagt es zumindest das der Abbildung zugrundeliegende Modell ICON–EU). Der Temperaturgegensatz der Luftmassen ist also beträchtlich.
In der Folge, und das sieht man im oberen Teil der Abbildung, steigt auch die Schneefallgrenze an. Sollte ICON–EU Recht behalten, so würde entlang einer wie mit dem Lineal gezogenen Linie, die von Rust am Oberrhein im Westen über Balingen und Dachau bis nach Mühldorf am Inn im Osten verläuft, die Schneefallgrenze praktisch sprunghaft von null auf etwa 1000 Meter ansteigen. Mit anderen Worten: Südlich dieser Linie würde es regnen, nördlich dieser Linie schneien. Oder?
Tja, es ist leider nicht ganz so einfach. Denn die Schneefallgrenze des Modells leitet sich von der am höchsten liegenden Nullgradgrenze ab. Dass es davon nicht nur eine geben muss, sieht man in der zweiten Abbildung. Sie zeigt für einen Punkt westlich von Freiburg (markiert durch den roten Stern im unteren Teil der ersten Abbildung) den für Mittwochmittag erwarteten Verlauf der Temperatur mit der Höhe. Oberhalb von etwa 2 Kilometer Höhe weist die Atmosphäre durchweg negative Temperaturen auf – je höher man kommt, desto kälter wird es. Zwischen dem Erdboden und einer Höhe von zwei Kilometern schwankt die Temperatur aber stark und weist keine klare Tendenz auf. Beginnt man am Erdboden, also am untersten Punkt der dargestellten Temperaturkurve, so geht die Temperatur erst etwas zurück, steigt dann bis in eine Höhe von etwa einem Kilometer an, um dann wieder zurückzugehen. Einen solchen Temperaturverlauf nennen Meteorologen Inversion, wobei die bodennah tiefen Temperaturen gerne als „kalter Fuß“, das darüber liegende Temperaturmaximum dagegen als „warme Nase“ bezeichnet werden.
Aber was bedeutet diese Temperaturschichtung für den Niederschlag? Der in der höheren Atmosphäre vorhandene Schnee fällt in die „warme Nase“ und schmilzt – vorausgesetzt, dass die „warme Nase“ stark genug ausgeprägt ist. Dann fällt der nunmehr flüssige Niederschlag in den „kalten Fuß“ und es bildet sich gefrierender Regen – vorausgesetzt, dass der kalte Fuß stark genug ausgeprägt ist. Dabei ändert sich bei der Grenzwetterlage die Ausprägung der „warmen Nase“ und des „kalten Fußes“ von Nord nach Süd extrem schnell – die exakte Vorhersage der Niederschlagsform ist folglich extrem schwierig. Hinzu kommt: Gefrierender Regen wird natürlich auch dann beobachtet, wenn flüssiger Niederschlag auf gefrorene Böden fällt. Und auch diese Situation wird ab dem morgigen Dienstagabend eine Rolle spielen.
Zusätzlich zu all diesen kniffligen Detailbetrachtungen ist es auch noch alles andere als einfach, eine präzise großräumige Vorhersage mit der genauen Lage der Luftmassengrenze hinzubekommen. Summa summarum werden die Prognosen der kommenden Tage für den Süden also diffizil. Da kann man als Vorhersagemeteorologe schon mal einen kalten Fuß bzw. kalte Füße bekommen.
Dipl.-Met. Martin Jonas
Deutscher Wetterdienst
Vorhersage- und Beratungszentrale
Offenbach, den 12.12.2022
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