Vereisung in der Luftfahrt – Teil 1: Rau- und Klareis
In der Luftfahrt ist Vereisung ein wichtiges, sicherheitskritisches Thema. Doch welche atmosphärischen Bedingungen führen überhaupt zur Bildung von Wassereis an einem Flugzeug? Welche Vereisungsarten gibt es und welche Auswirkungen haben diese? Diesen Fragen wollen wir uns in einem mehrteiligen Thema des Tages widmen.
Unter Vereisung wird die Ablagerung von Eis oder Reif auf Luftfahrzeugen verstanden, die sich in der Luft oder am Erdboden befinden. Eisansatz am Flugzeug beeinträchtigt die Aerodynamik vor allem durch verminderten Auftrieb und erhöht zugleich den Luftwiderstand sowie das Gewicht des Flugzeuges. So kann das Tragwerk unter Umständen nicht mehr genügend Auftrieb erzeugen, um das Luftfahrzeug in der Luft zu halten. Außerdem können die Ruder des Flugzeugs blockiert und bei schnellem Eisansatz auch die Sicht behindert werden. Eisansatz kann außerdem die Profilform der Trag- und Steuerflächen verändern, sodass ein Strömungsabriss droht.
Es wird zwischen den folgenden Haupttypen des Eisansatzes unterschieden: Raueis, Klareis, Mischeis, Backschnee und Raureif.
Raueis entsteht, wenn kleine stark unterkühlte Wassertröpfchen meist mit einem Durchmesser kleiner 20 μm (0,02 mm) bei Kontakt mit einer Oberfläche unter 0 Grad schnell gefrieren. Die Schnelligkeit des Übergangs in einen gefrorenen Zustand liegt darin, dass die Tröpfchen klein sind und der fast sofortige Übergang zur Bildung einer Mischung aus winzigen Eispartikeln und eingeschlossener Luft führt. Die resultierende Eisablagerung ist rau und kristallin, undurchsichtig und aufgrund ihrer kristallinen Struktur spröde und porös. (In Abbildung 1.1. ist eine schematische Ablagerung von Raueis an einer Tragfläche dargestellt.) Raueis wird begünstigt, wenn die Temperatur der betreffenden Luftschicht zwischen -10 und -40 Grad liegt und der Flüssigwassergehalt in der Wolke geringer ist. Dadurch kann die beim Gefrierprozess freiwerdende Wärme umgehend abgeführt werden.
Raueis bildet sich häufig in stratiformer Bewölkung bei einer feuchtstabilen Schichtung (Für detaillierte Begriffserklärungen siehe Glossar-Links unterhalb des Textes.). Vor allem im oberen Bereich dieser Wolken sind die erforderlichen kleinen Tröpfchen vorhanden. Während des Fluges durch die Wolken entsteht Raueis an den Vorderkanten der angeströmten Flugzeugoberflächen und wächst dem Fahrtwind entgegen. (Abbildung 2 zeigt gebildetes Raueis am Tragwerk eines Flugzeuges.) Dies kann die aerodynamischen Eigenschaften sowohl der Flügel als auch der horizontalen Stabilisatoren beeinträchtigen und die Lufteinlässe des Motors einschränken. Wenn das Anwachsen anhält, können sich aus der zunächst groben Beschichtung an der Vorderkante der Oberfläche unregelmäßige Vorsprünge nach vorne in den Luftstrom entwickeln.
Klareis wird im Gegenteil zum Raueis durch weniger stark unterkühlte und größere Wassertröpfchen gebildet. Diese Tröpfchen haben einen Durchmesser von 40 bis 500 μm (0,04 mm bis 0,5 mm) und werden im Englischen als „supercooled large droplets“ bezeichnet. Der auftretende Temperaturbereich liegt meist zwischen 0 und -15 Grad. Von diesen Wassertröpfchen gefriert nur ein kleiner Teil sofort, da beim Gefrieren kurzfristig Wärme freigesetzt wird. Dies führt nach dem Auftreffen zunächst zu einem Rücklauf des unterkühlten Wassers und erst dann zu einem fortschreitenden Einfrieren der verbleibenden Flüssigkeit auf den Flugzeugoberflächen, und da die resultierende gefrorene Ablagerung als Ergebnis relativ wenige Luftblasen enthält, ist das angesammelte Eis transparent und durchscheinend. (In Abbildung 1.2. ist eine schematische Ablagerung von Klareis an einer Tragfläche dargestellt.) Wenn der Gefrierprozess ausreichend langsam ist, damit sich das Wasser vor dem Einfrieren gleichmäßiger ausbreiten kann, ist die resultierende transparente Eisschicht möglicherweise schwer zu erkennen. Je größer die Tröpfchen und je langsamer der Gefrierprozess ist, desto transparenter ist das Eis.
Klareis gilt als die gefährlichste Art der Vereisung, da der Eispanzer innerhalb weniger Minuten um einige Zentimeter anwachsen und damit das Gewicht des Luftfahrzeuges deutlich erhöhen kann. Mit fortschreitender Vereisung kann die zu Beginn glatte Oberfläche uneben werden, wodurch sich zusätzlich die aerodynamische Form des Flugzeuges verändert. (Abbildung 3 zeigt gebildetes Klareis am Tagwerk eines Flugzeuges.) Gelegentlich können bestimmte Kombinationen von Temperatur und Tropfengröße zur Bildung einer Doppelhorn-Form vor allem an der Vorderkante der Tragfläche mit Vorsprüngen sowohl von der oberen als auch von der unteren Vorderkantenoberfläche führen. (In Abbildung 1.3. ist eine schematische Darstellung von Klareis mit Doppelhorn-Form dargestellt.) Klareis ist vor allem in den unteren Bereichen von gut entwickelter cumuliformer Bewölkung anzutreffen. Außerdem kann sich Klareis auch bei gefrierendem Sprühregen oder Regen bilden.
In den nächsten Teilen diese Reihe werden wir uns genauer mit den Vereisungsarten Mischeis, Backschnee und Raureif und deren Auswirkungen auf die Aerodynamik eines Flugzeuges auseinandersetzen.
M.Sc.-Met. Sebastian Altnau
Deutscher Wetterdienst Vorhersage- und Beratungszentrale Offenbach, den 05.10.2020